Langfristthema: Ausgewogene Risiken, aber Vorsicht vor goldenen Zeitaltern
In unserer Langfristthese von 2023 mit dem Titel „Die Nachbeben-Wirtschaft“, gingen wir davon aus, dass die Verwerfungen zu Beginn der 2020er-Jahre eine dauerhafte neue Realität schaffen würden. Wir erlebten eine Welt mit hoher makroökonomischer Volatilität und schleppendem Wachstum. Wir sagten voraus, dass die Zentralbanken alles Notwendige tun würden, um die Inflation wieder auf „2,x Prozent“ zu drücken.
Auch wenn diese These im Großen und Ganzen weiterhin Bestand hat, muss unser Ausblick für die kommenden fünf Jahre doch eine Reihe wichtiger Entwicklungen berücksichtigen und bewerten, die seit unserem Forum im Mai 2023 virulent geworden sind. Dazu zählen:
- Im Nahen Osten bricht ein Krieg aus, und in Europa geht der Krieg ins dritte Jahr.
- Rascher und – bislang schmerzloser – Inflationsabbau auf „2,x Prozent“ in den meisten Industrieländern.
- Wesentliche Unterschiede bei den Inflations- und Wachstumskurven zwischen den USA und anderen Industrieländern.
- Eine unvorhergesehene Verdoppelung des US-Haushaltsdefizits in einer Volkswirtschaft mit einer Arbeitslosigkeit nahe dem Rekordtief.
- Ein „Wutanfall“ im Finanzministerium im Oktober, ausgelöst durch die Sorge, dass sich die unhaltbare Entwicklung der US-Fiskalpolitik in den kommenden Jahren weiter beschleunigen könnte.
- Fortgesetzter Spar- und Schrumpfkurs im Bankensektor angesichts verschärfter Kapital- und Liquiditätsvorschriften.
Unsere langfristigen Ansichten basieren auch auf unserem jüngsten mittelfristigen Konjunkturausblick mit dem Titel „Divergierende Märkte, diversifizierte Portfolios“.Dieser Ausblick hält fest, dass die Notenbanken aus ihrer gewohnten Phalanx ausscheren und unterschiedliche Strategien beim Thema Zinssenkungen verfolgen werden. Die relative Stärke der US-Wirtschaft wird anhalten, während sich die Konjunktur in vielen großen Industrieländern abkühlt. Dies hat abermals zu einer höheren Risikoneigung an den US-Finanzmärkten geführt und die Frage aufgeworfen, ob es sich dabei um kurzfristige oder eher dauerhafte Trends handelt.
Die Zentralbanken haben ihre Flexibilität bewahrt, ...
Die scharfen konjunkturellen Anpassungen, die nach der Pandemie die Weltwirtschaft erschüttert haben, werden nun durch nachhaltigere langfristige Trends mit erheblichen Auswirkungen abgelöst. Zwar rechnen wir langfristig weiterhin mit einem schleppenden globalen Wachstum und volatileren Konjunkturzyklen. Doch scheinen die damit verbundenen Risiken ausgewogener zu sein als noch vor einem Jahr.
Dies ist teilweise auf das schnelle Sinken der Inflation in den meisten Industrieländern auf ein Niveau von „2,x Prozent“ zurückzuführen. Durch eine rasche Straffung der Geldpolitik konnte der Inflationsschub unter Kontrolle gebracht werden, ohne dass die mittelfristigen Inflationserwartungen anstiegen.
Die bessere Risikoverteilung ist auch darauf zurückzuführen, dass die Notenbanken stillschweigend eine Strategie des „opportunistischen Inflationsabbaus“ verfolgt haben, um den verbleibenden Weg zu den Zielwerten zu bewältigen. Diese Strategie verschafft den politischen Entscheidungsträgern einen gewissen Spielraum, die Zinsen in Zeiten geringer Inflation zu senken und so das Wachstum anzukurbeln.
Die im vergangenen Jahr geäußerten Befürchtungen, dass eine restriktive Geldpolitik zu Instabilität an den Finanzmärkten führen könnte, haben sich nicht bewahrheitet. Die systemischen Risiken für die globalen Banken- und Nichtbanken-Finanzmärkte scheinen eingedämmt.
Allerdings geht der regulatorische Trend eindeutig in Richtung strengerer Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen für die Bankenbranche. Die Unfähigkeit der Banken, in bestimmten Märkten Bilanzkapazitäten bereitzustellen, wird wahrscheinlich dazu führen, dass sich viele Kreditvergaben künftig stärker auf privates Kapital konzentrieren.
Wir sehen für Investoren immer mehr Möglichkeiten, als vorrangige Kreditgeber in Bereichen einzusteigen, die einst von Regionalbanken besetzt waren, wie etwa Konsumentenkredite, Hypothekendarlehen und Ausrüstungsfinanzierungen. Gewerbeimmobilien bieten ebenfalls Chancen für flexibles Kapital, da der Spar- und Schrumpfkurs der Banken die Herausforderungen, die sich durch sinkende Immobilienpreise und eine Welle aus fälligen Krediten im Volumen von mehr als zwei Billionen US-Dollar ergeben, in den kommenden Jahren verschärfen werden.
… doch der fiskalische Spielraum ist begrenzt
Während sich das geldpolitische Umfeld vergrößert hat, ist dies beim fiskalpolitischen Ausblick nicht der Fall. Ein Schwerpunkt des diesjährigen Secular Forum waren globale fiskalische Trends und dabei insbesondere die Entwicklung der US-Schulden auf Bundesebene.
Es bleibt abzuwarten, ob die mittelfristige Stärke der US-Wirtschaft von Dauer ist oder lediglich durch die staatlichen Unterstützungsprogramme während der Pandemie und eine steigende Schuldenquote befeuert wird. Sollte es in den USA irgendwann zu einer fiskalischen Abrechnung kommen, ist eine Schuldenkonsolidierung durch Reformen bei den Sozialausgaben und höhere Steuern wahrscheinlich. So unwahrscheinlich es im aktuellen politischen Umfeld auch erscheinen mag, selbst solche vermeintlichen Tabuthemen müssen sich möglicherweise eben erst allmählich entwickeln und emanzipieren.
Die im Verhältnis zum BIP enorm hohen Staatsschulden, die über den Industrieländern schweben (siehe Abbildung 1), werden auf lange Sicht wahrscheinlich zu steileren Renditekurven führen, da die Anleger für längerfristig laufende Anleihen weiterhin eine höhere Vergütung verlangen. Es gibt Hinweise – beispielsweise inflationsbereinigte Terminrenditen oder Schätzungen der Laufzeitprämien für US-Staatsanleihen –, die darauf schließen lassen, dass die Märkte einen Teil dieser Anpassung bereits eingepreist haben, noch bevor die Notenbanken mit Zinssenkungen beginnen (weitere Informationen finden Sie in unserem aktuellen Artikel „Will the True Treasury Term Premium Please Stand Up?“).
Abbildung 1: Der fiskalische Spielraum dürfte begrenzt sein
Wenn es darum geht, den Schaden künftiger Konjunkturabschwünge durch eine uneingeschränkte Fiskalpolitik zu begrenzen, werden die Behörden mit ziemlicher Sicherheit auf größere Widerstände stoßen. Unser Basisszenario ist jedoch keine plötzliche Finanzkrise, sondern wiederkehrende Phasen der Marktvolatilität, wenn sich der Fokus auf haushaltspolitische Fragen verlagert.
Trotz dieses fiskalischen Drucks gehen wir davon aus, dass der US-Dollar die dominierende Weltwährung bleiben wird, was nicht zuletzt daran liegt, dass es keinen ernst zu nehmenden Herausforderer gibt. Irgendwann könnte es tatsächlich zu einer Abrechnung mit der US-Schuldenkrise kommen. Dass so ein Szenario unmittelbar bevorsteht, ist jedoch nicht wahrscheinlich angesichts der Vorteile der USA in den Bereichen Einwanderung, Produktivität und Innovation sowie der Tatsache, dass US-Staatsanleihen eine globale Reservewährung darstellen. Ein Pluspunkt ist ferner die generelle Dynamik der US-Wirtschaft. Eine erhöhte Nachfrage nach US-Staatsanleihen als „sicherer Hafen“ und liquides Werte-Aufbewahrungsinstrument hat die Sorgen des Anleihenmarkts mit Blick auf die fiskalpolitische Nachhaltigkeit bislang in Zaum gehalten. Dies lässt darauf schließen, dass der Zeitplan für Haushaltsreformen extrem langfristiger Natur sein könnte.
Im Vergleich mit anderen Volkswirtschaften haben die USA möglicherweise noch immer das „sauberste schmutzige Hemd“. Die Aussichten Chinas werden durch die Rezession im Immobiliensektor, eine alternde Bevölkerung und weniger offene Exportmärkte getrübt. In Europa dürfte es aufgrund der fragmentierten Politik schwierig sein, eine umfassende Wachstumsstrategie zu entwickeln angesichts regionaler Konflikte, Energieunsicherheit und einer stärkeren direkten Konkurrenz aus China bei höherwertigen Industrieerzeugnissen.
Auf dem Weg zu einer multipolaren Welt
Die geopolitische Landschaft wird zunehmend durch Spannungen zwischen einer dominanten Supermacht (den USA) und ihrem aufstrebenden Rivalen (China) bestimmt. Sowohl China als auch Russland haben klare langfristige Visionen, die im Widerspruch zu westlichen Werten stehen. Die Friedensdividende der vergangenen drei Jahrzehnte verwandelt sich in Ausgaben für Konflikte.
Dies unterstreicht den Übergang zu einer multipolaren Weltordnung, in der die Kooperation begrenzt scheint und neue Mittelmächte auf die Bühne treten könnten. Dieser Wandel wird wahrscheinlich auch zu veränderten Korrelationen zwischen den Märkten und einer größeren Divergenz beim potenziellen Wachstum und den politischen Antworten führen. Auch die Konjunkturzyklen werden wahrscheinlich weniger synchron verlaufen. Wir gehen davon aus, dass die grundlegenden Kräfte zu einer größeren Volatilität bei makroökonomischen Entwicklungen und an den Finanzmärkten als vor der Pandemie führen werden.
Auch die Risiken für die Stabilität des Finanzsystems haben zugenommen. Sie könnten problematisch werden, wenn diese Konflikte die grenzübergreifenden Finanzströme wesentlich verändern oder die Voraussetzungen für Wertminderungen bei (investiertem) Kapital schaffen. Wir sind der Ansicht, dass die Risikoprämie für Anleihen- und Kreditinvestments in China zu niedrig ist, um angesichts der potenziellen Risiken attraktiv zu sein.
Wir gehen davon aus, dass sich das Wachstum in China weiter verlangsamen wird, ohne jedoch zum Stillstand zu kommen. Insbesondere China befindet sich im Prozess einer Reglobalisierung. Chinas neues Wachstumsmodell, das sich auf Produktion und Infrastruktur konzentriert, um den Zusammenbruch des Immobiliensektors auszugleichen, führt zu einem Anstieg der Exporte bei Gütern der verarbeitenden Industrie. Dieser Kurswechsel erfordert eine Neubewertung der Rolle Chinas in der Weltwirtschaft, insbesondere seines Einflusses auf die Rohstoffmärkte und die Inflation sowie seiner Integration in die globale Finanzordnung.
Die wichtigsten Schwellenländermärkte haben in diesem Zyklus eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit gezeigt. Die typische Kombination von Faktoren, die oft Krisen in den Schwellenländern auslösen – Kapitalflucht, verschärfte Finanzierungsbedingungen und ein Einbruch der Rohstoffpreise – ist derzeit nicht erkennbar und dürfte auch auf lange Sicht nicht auftreten. Die Verschuldung der Schwellenländer nimmt zu, bleibt im Vergleich zu den Industrieländern bislang jedoch auf einem tragbaren Niveau.
Etwa 60 Prozent der Weltbevölkerung (gemessen am BIP) werden dieses Jahr an wichtigen Wahlen teilnehmen. Es gibt erste Anzeichen dafür, dass populistische Parteien – vor allem in Europa – an Zulauf gewinnen werden. Ganz grundsätzlich haben die Wahlen rund um den Globus das Potenzial, sowohl die ökonomischen als auch die geopolitischen Prioritäten zu verändern. Wir sehen das Risiko, dass durch die Wahlen die Tendenzen zu Fragmentierung, Multipolarität sowie protektionistischen Maßnahmen verstärkt und Friend-Shoring-Investitionen begünstigt werden. Länder wie Indien, Indonesien und Mexiko dürften davon profitieren.
Was die US-Präsidentschaftswahlen betrifft, glauben wir, dass in den Bereichen Handel, Steuerpolitik, Einwanderung, Regulierung und Umweltpolitik das größte Störpotenzial existiert. Unabhängig vom Wahlausgang dürften die US-Haushaltsdefizite in der Nähe ihres historischen Hochs bleiben. Beide politischen Parteien legen zudem Wert darauf, gegenüber China hart zu bleiben.
KI-Effekte rücken in den Fokus
Generative KI hat das Potenzial, die Arbeitsmärkte zu verändern und den Zugang zu Aufgaben mit Entscheidungsbefugnissen zu demokratisieren, sodass ein größerer Teil der Arbeitnehmer in die Lage versetzt wird, fundierte Entscheidungen zu treffen.
Viele Unternehmen stehen jedoch vor Herausforderungen, wenn sie KI wirksam einsetzen wollen. Dramatische Fortschritte bei Produktivität und Effizienz lassen sich in den Makrodaten der kommenden fünf Jahre möglicherweise nicht erkennen. Der Grund hierfür: Zur Maximierung des Nutzens von KI auf der Makroebene ist nicht nur die Einführung der Technologie selbst erforderlich, sondern auch die Neukonfiguration von Arbeitsabläufen und ein Umdenken in den Produktionsprozessen auf der Mikroebene einzelner Organisationen.
Ähnlich wie bei den Erfahrungen mit anderen neuen Technologien in den vergangenen Jahrzehnten ist es auch hier möglich, dass bescheidene Verbesserungen bestehender Arbeitspraktiken keine nennenswerten zusätzlichen Auswirkungen auf die Produktivität haben. Es besteht jedoch die Chance auf bahnbrechende Veränderungen, die in bestimmten Bereichen wie dem Gesundheitswesen und der Wissenschaft größere Auswirkungen auf das Produktivitätswachstum haben könnten.
Unser Basisszenario geht zwar davon aus, dass sich die vollen Auswirkungen neuer, großer KI-Sprachmodelle langfristig und erst allmählich manifestieren. Es ist jedoch möglich, dass das auch schneller vonstatten geht und es dabei zu disruptiven Prozessen kommt. Der Boom bei Kapitalinvestitionen in den Bereichen Computertechnik, Datenzentren und grüne Energien macht diese Ressourcen in größerem Umfang für Anwendungen jenseits der KI verfügbar, während KI-Investitionen KI-gestützte Durchbrüche in anderen Bereichen zunehmend plausibel und wahrscheinlich machen. Auch negative Überraschungen sind möglich, insbesondere dann, wenn der Missbrauch von KI-Modellen für Überwachung, Manipulation oder als Sicherheitsbedrohung zu Einschränkungen führt, die Innovationen ausbremsen.
Aktuell könnten die Kapitalausgaben zu einem kurzfristigen „Zuckerflash“ führen. Um längerfristig nachhaltiges Wachstum zu erzielen, sind letztlich Effizienzsteigerungen erforderlich.
Die Nachfrage nach Chips, Rechenzentren und der Stromleistung zu deren Betrieb dürfte explosionsartig steigen. Diese Trends werden unmittelbare Folgen für die gesamte Branche haben.
Neutrale Leitzinsen bleiben niedrig
Die aktuell hohen Leitzinsen sind das Ergebnis mittelfristig wirkender Kräfte, genauer gesagt einer sprunghaft angestiegenen Inflation. Sobald sich die Inflation in der Nähe der Zielvorgaben der Notenbanken stabilisiert, rechnen wir damit, dass sich die neutralen Leitzinsen in den Industrieländern wahrscheinlich auf einem Niveau einpendeln werden, das unter demjenigen liegt, das wir vor der globalen Finanzkrise gesehen hatten.
Wir gehen davon aus, dass der neutrale nominale Leitzins in den USA über unseren langfristigen Betrachtungshorizont hinweg wahrscheinlich im Bereich von zwei bis drei Prozent bleiben wird (was einen langfristigen neutralen Realzins von null bis ein Prozent impliziert). Im Gegensatz dazu deuten die aktuellen Kurse darauf hin, dass die Märkte davon ausgehen, dass der neutrale Zinssatz nicht weit unter vier Prozent fallen dürfte. Das kann für Anleiheninvestoren weitere Chancen eröffnen, da die Renditen bereits heute über einen Puffer in Form positiver Realzinsen und Laufzeitprämien verfügen.
Wir gehen davon aus, dass die Bilanzen der Zentralbanken, die sich derzeit im Zuge der Programme zur quantitativen Straffung (Quantitative Tightening, QT) verkleinern, weiterhin wesentlich größer sein werden als vor der Ära der quantitativen Lockerung (Quantitative Easing, QE). Die Zentralbanken der Industrieländer werden voraussichtlich auch weiterhin auf Kaufprogramme für Vermögenswerte zurückgreifen, um das reibungslose Funktionieren der Märkte für Staatsanleihen und Repos zu gewährleisten und als Kreditgeber letzter Instanz zu fungieren. Beispiele hierfür sind das „Bank Term Funding Program 2023“ der US-Notenbank und die 2022 durchgeführte Operation der englischen Notenbank zur Stützung des britischen Marktes für Staatsanleihen.
Allerdings halten wir es für weniger wahrscheinlich, dass die Notenbanken als Reaktion auf einen künftigen Konjunkturabschwung wieder unbefristete QE-Programme zum Ankauf von Vermögenswerten einführen werden. Die finanzielle Belastung, die mit der Aufrechterhaltung großer Wertpapierportfolios verbunden ist, wenn die Finanzierungskosten die Erträge aus diesen Vermögenswerten übersteigen, ist zunehmend deutlich geworden.
Geld- und fiskalpolitische Puts – oder die Erwartung staatlicher Hilfen im Fall eines Konjunkturabschwungs – sind heute noch weniger im Geld. Dies schränkt die Fähigkeit der Regierung ein, schwächelnde Volkswirtschaften anzukurbeln und Unterstützung zur Abfederung von Schocks zu gewähren. Wir erwarten zusätzliche Volatilität, da die Märkte stärker auf Fundamentaldaten und weniger auf Basis der Erwartung handeln, dass die Regierungen schon zur Rettung eilen werden.