Konjunkturausblick: Die Ausnahmestellung der USA könnte inmitten globaler Stagnation fortbestehen
In unserem Ausblick vom Januar 2024 mit dem Titel „Den Abschwung meistern“ prognostizierten wir für dieses Jahr eine stagnierende bis leicht rückläufige globale Konjunkturentwicklung, da die restriktive Geldpolitik Wirkung zu zeigen begann. Bisher ist dieses Szenario im Allgemeinen in sämtlichen Industrieländern eingetreten – mit Ausnahme der USA. Trotz technischer Rezessionen in Großbritannien, Schweden und Deutschland sowie stagnierenden Wachstums anderswo hat die US-Wirtschaft ihre überraschende Stärke aus 2023 ins neue Jahr mitgenommen (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Das Wirtschaftswachstum in den USA und anderen Industrieländermärkten entwickelt sich unterschiedlich
Wir gehen davon aus, dass das US-Wachstum wahrscheinlich seinen Höhepunkt erreicht hat und sich in diesem Jahr gegenüber dem Rest der Industrieländer allmählich abschwächen wird. Dennoch könnten die Faktoren, die zur Widerstandsfähigkeit der USA beigetragen haben, die (weiterhin nur leicht wachsende) US-Wirtschaft noch eine Weile stützen. Wir meinen, dass hierbei fünf Hauptfaktoren eine Rolle spielen:
1) Größere pandemiebedingte fiskalische Anreize und immer noch hohe Defizite im Bundeshaushalt haben die US-Nachfrage deutlicher gestärkt als in anderen Weltregionen.
Natürlich sind die Sparguthaben in den USA erheblich zurückgegangen, insbesondere bei Haushalten mit mittlerem oder niedrigem Einkommen. Und sie werden in unserem mittelfristigen Ausblick weiterhin durch über dem Zielwert liegende Inflationsraten erodiert – ein weiterer Grund zu der Annahme, dass sich das US-Wachstum verlangsamen wird.
Allerdings sind die geschätzten Sparguthaben in anderen Industrieländern deutlich stärker aufgezehrt worden. Auch waren die US-Verbraucher zunehmend bereit, mehr Schulden aufzunehmen, um sich Konsumwünsche zu erfüllen. Daher könnte die Outperformance in den USA mittelfristig weiter andauern.
2) Andere Volkswirtschaften reagieren empfindlicher auf höhere Zinssätze als die USA.
In anderen Industrieländern erfolgt die Übertragung der Geldpolitik zügig über höhere Zinskosten für Verbraucherschulden und kurzfristigere Hypotheken mit variablem Zinssatz. Im Gegensatz dazu waren US-Haushalte mit niedrigen Festzinshypotheken besser vor den Zinserhöhungen der Fed geschützt und profitierten gleichzeitig von höheren Renditen für ihr Erspartes. Darüber hinaus hatten strengere Kreditbedingungen und rückläufige gesamtwirtschaftliche Kreditströme nicht den üblichen Effekt einer Verlangsamung des Wachstums, da die immer noch hohen Ersparnisse infolge staatlicher Transferzahlungen die Abhängigkeit von Krediten verringert hatten.
Trotz der Schwäche der US-Regionalbanken haben die meisten Besitzer qualitativ hochwertiger, niedrig verzinster Anleihen, darunter die Fed, Großbanken, Währungsreserven-Manager und Haushalte (um nur einige zu nennen), die Bewertungsverluste infolge höherer Zinsen gut überstanden – und zwar, ohne dass dadurch eine systemische Krise ausgelöst wurde. Andere Bereiche der Wirtschaft, die zinssensibler sind, darunter die Märkte für Gewerbeimmobilien (CRE) und Bankkredite, bleiben eine Quelle potenzieller Fragilität. Insgesamt sind wir davon überzeugt, dass diese Risiken für die gesamte US-Wirtschaft beherrschbar sind.
3) Europa und Südostasien scheinen gegen die chinesische Importkonkurrenz weniger gut gewappnet zu sein als die USA.
Jüngst verabschiedete US-Gesetze, wie etwa der Inflation Reduction Act (IRA) von 2022, haben in den USA ansässige Branchen gefördert, insbesondere durch Steuergutschriften, die von der Produktion im Inland abhängig sind. Die USA sind für ihr Wirtschaftswachstum auch weniger auf Exporte angewiesen als viele andere Länder, während sie gleichzeitig vom Zugang zu erschwinglichen heimischen Energiequellen profitieren. Darüber hinaus erheben die USA weiterhin Zölle auf chinesische Exporte.
Um die Wachstumsziele inmitten eines deutlichen Abschwungs im Immobiliensektor aufrechtzuerhalten, hat sich China darauf konzentriert, eigenen Produzenten zu subventionieren. Dies hat es den Herstellern ermöglicht, kostengünstige Waren zu exportieren, insbesondere Investitionsgüter für erneuerbare Energien wie etwa Elektrofahrzeuge und Solarinfrastruktur. Dies wird wahrscheinlich zu globalen deflationären Kräften beitragen, die unterschiedliche regionale Auswirkungen haben dürften (siehe Abbildung 2).
Auch bei minderwertigen Gütern strebt China eine umfassende Steigerung der Produktionseffizienz an. Südostasiatische Staaten, die von der Diversifizierung der Lieferketten in westlichen Industrieländern profitiert haben, könnten dadurch unter Druck geraten. Gleichzeitig hat China die High-End-Fertigung zu einer politischen Priorität gemacht. Der Euroraum und insbesondere Deutschland scheinen relativ im Nachteil zu sein.
Abbildung 2: Die Importpreise für im Ausland hergestellte Waren sind in Europa stärker gesunken als in den USA
4) US-Unternehmen stehen an der Spitze der KI-Technologien und erzeugen erhebliche Vermögenseffekte – und zwar noch bevor Produktivitätssteigerungen realisiert werden.
Die führende Position der USA im globalen KI-Innovationswettlauf wird durch ein dynamisches Umfeld für Start-ups, umfangreiche Private-Equity-Finanzierungen und eine fortschrittliche Halbleiter-Fertigungstechnologie gestützt. Auch wenn die US-Exportkontrollen unvollkommen sind, werden sie Chinas Fortschritte wahrscheinlich weiterhin beschränken.
Der KI-Boom könnte kurzfristig durchaus inflationär wirken – basierend auf dem nachfragesteigernden Vermögenseffekt einer starken Aktienperformance und großen Pools an verfügbarem Kapital –, bevor die deflationären Auswirkungen einer höheren Produktivität einsetzen. Wir sind optimistisch, dass KI über unseren längerfristigen Prognosehorizont hinweg zu Produktivitätssteigerungen führen kann, auch wenn Fragen zu Implementierungsverzögerungen und dem Ausmaß dieses Effekts bestehen bleiben.
5) Beim Abwägen der Risiken mit Blick auf den Ausgang der US-Präsidentschaftswahl überwiegen jene Tendenzen, die das US-Wachstum nur geringfügig stützen würden und andernorts möglicherweise schädliche Auswirkungen hätten.
Die US-Wahlen im November drohen, ein Wendepunkt für die globale Geopolitik und den Handel zu werden – mit wechselnden Risiken für die Investmentlandschaft, die wir natürlich weiterhin beobachten werden.
Eine weitere Präsidentschaft von Donald Trump würde wahrscheinlich Druck auf die NATO ausüben und sich auf eine aggressivere protektionistische Handelspolitik konzentrieren. In Verbindung mit der Deregulierung im Inland und einer Ausweitung bestimmter Steuersenkungen könnte dies – trotz möglicher längerfristiger Kosten für die inländische Produktivität und Wirtschaftsdynamik – das Wachstum und die Inflation in den USA mittelfristig stützen.
Sollte Präsident Joe Biden eine weitere Amtszeit gewinnen, würde er vermutlich viele der Trump-Steuersenkungen von 2017 verlängern, den Kinderfreibetrag erhöhen und die auf die USA fokussierte Industriepolitik, die er während seiner ersten Amtszeit eingeführt hatte, beibehalten oder sogar ausbauen.
Auswirkungen auf Inflation und globale Divergenz
Diese Faktoren, die das relative US-Wachstum unterstützen, werden wahrscheinlich auch zu einer anhaltenden Inflation in den USA im Jahr 2024 beitragen. Da sich die Inflation weltweit abkühlt (siehe Abbildung 3), gehen wir davon aus, dass die Inflation der Verbraucherpreise (VPI) in den USA zum Jahresende in einer Größenordnung von 3,0 bis 3,5 Prozent liegen könnte. Die Inflation der persönlichen Konsumausgaben (PCE), die von der Fed bevorzugte Kennziffer, könnte unserer Ansicht nach zum Jahresende im Bereich von 2,5 bis 3,0 Prozent liegen, während die Inflation im Euroraum durchschnittlich 2,0 bis 2,5 Prozent betragen könnte.
Abbildung 3: Die Inflation in den Industrieländern hat sich mit unterschiedlichem Tempo abgekühlt
Da sich die Leitzinsen mittelfristig auf Höchstständen befinden (siehe Abbildung 4), signalisieren die Zentralbanken der Industrieländer allgemein, dass sie ihren Zyklus aus Zinssenkungen zur Jahresmitte beginnen werden. (Detaillierte Informationen finden Sie in unserem März-Blog „Eine Zinserhöhung, drei Hinweise und eine überraschende Zinssenkung“.) Wir glauben, dass das Tempo der nachfolgenden Zinssenkungen höher ausfallen könnte und die Zielmarke für den Leitzins zum Jahresende 2025 außerhalb der USA niedriger sein könnte.
Obwohl eine sanfte Landung, die eine Rezession vermeidet, in allen Weltregionen möglich erscheint, bleiben erhebliche Unsicherheiten bestehen. Eine positive Angebotsverschiebung, eine Verlangsamung der Inflation und sinkende Zinsen waren laut unserer Analyse der Zinszyklen der Zentralbanken von den 1960er-Jahren bis heute Schlüsselmerkmale früherer sanfter Landungen. Alle diese Merkmale haben im Jahr 2023 an Bedeutung gewonnen.
Dennoch gehen wir bei der Betrachtung der Risikoverteilung davon aus, dass sowohl die Inflations- als auch die Rezessionsrisiken höher bleiben als üblich. Grund hierfür sind die einzigartigen disruptiven Prozesse infolge der Pandemie. In den USA scheinen die anhaltenden Inflationsrisiken am größten zu sein. Andernorts sind es Rezessionsrisiken, die Anlass zu größerer Sorge geben.
Abbildung 4: Die Leitzinsen der Zentralbanken der Industrieländer werden wahrscheinlich auseinanderdriften, nachdem sie relativ gleichläufig angestiegen waren
Ein entscheidender Faktor wird sein, wie groß der Spielraum ist, den die Notenbanken bei der Tolerierung einer Inflationsrate haben, die ihre definierten Zielmarken übersteigt. Im Gegensatz zu anderen Zentralbanken, die sich ausschließlich auf Preisstabilität konzentrieren, verfügt die Fed über ein umfassenderes Doppelmandat, zu dem auch die Austarierung eines Kompromisses zwischen Inflation und Beschäftigung gehört. Daher würde es wahrscheinlich einer deutlichen Beschleunigung der US-Inflation in einem breiten Spektrum von Komponenten bedürfen, damit die Fed erneut über Zinserhöhungen nachdenkt. Die Vertreter der Fed haben jedoch angedeutet, dass sie dies lieber nicht tun würden.
Dies deutet darauf hin, dass die Politik der Fed trotz bemerkenswert robuster Arbeitsmärkte in Richtung weiterer Zinssenkungen tendieren könnte. Das wiederum könnte eine etwas über dem Zielwert liegende Inflation noch eine Weile stützen. Inwieweit die Fed bereit ist, für einen längeren Zeitraum eine etwas über dem Zielwert liegende Inflation zu akzeptieren, bleibt eine Schlüsselfrage für den Ausblick.