In einem Punkt waren sich die Anlageexperten von PIMCO sofort einig, als wir uns – mehrheitlich wieder virtuell – zu unserem jüngsten vierteljährlichen Cyclical Forum trafen: Der Einmarsch Russlands in die Ukraine, die daraufhin verhängten Sanktionen und die Turbulenzen an den Rohstoffmärkten haben die bereits vor dem Ausbruch dieses Kriegs unsicheren Aussichten für die Weltwirtschaft und die Finanzmärkte noch weiter akzentuiert.
Zu Beginn des Forums haben wir uns an das Konzept der radikalen oder Knight’schen Unsicherheit erinnert, das in unseren Diskussionen bei PIMCO im Lauf der Jahre immer wieder thematisiert wurde (siehe z. B. „King, Keynes und Knight: Einblick in eine unsichere Wirtschaft“, Juli 2016). Im Gegensatz zu einem Risiko, das sich durch die Zuweisung von Wahrscheinlichkeiten für Ergebnisse auf der Grundlage von Erfahrungen oder statistischen Analysen quantifizieren lässt, ist Unsicherheit im Wesentlichen nicht messbar. In einem so radikal unsicheren Umfeld sind detaillierte Prognosen daher nicht besonders hilfreich für die Erstellung einer Anlagestrategie. Daher bewegten sich unsere Diskussionen über die ökonomischen Aussichten stärker auf dem Makro-Niveau als sonst. Dabei hatten wir stets vor Augen, dass es eine große Bandbreite möglicher Szenarien gibt und alles auch ganz anders kommen kann – Entwicklungen verlaufen nicht zwingend linear, abrupte Störungen sind an den Märkten stets möglich.
Trotz der vielen Unbekannten haben wir fünf grundlegende Schlussfolgerungen gezogen, die den Ausblick für die kommenden sechs bis zwölf Monate beherrschen dürften. Sie sind unserer Meinung nach für Anleger in dieser Phase am relevantesten. Die noch längerfristigen Auswirkungen der aktuellen Situation werden wir dann bei unserem nächsten Secular Forum im Mai diskutieren.
1) Eine „Anti-Goldilocks-Konjunktur“
Erstens: Die Weltwirtschaft und die politischen Entscheidungsträger sind mit einem durch Stagflation charakterisierten Angebotsschock konfrontiert, der sich negativ auf das Wachstum auswirkt und die Inflation tendenziell weiter anheizen wird. Es gibt vier Hauptfaktoren, die die Inflation und das Wachstum beeinflussen: 1) höhere Energie- und Lebensmittelpreise, 2) unterbrochene Lieferketten und Handelsströme, 3) schlechtere Finanzierungsbedingungen und 4) sinkendes Vertrauen auf Unternehmer- und Verbraucherseite aufgrund der aktuell hohen Unsicherheit. Das Zusammenwirken dieser Faktoren könnte sehr leicht zu dem führen, was ein Teilnehmer unseres Forums als eine „Anti-Goldilocks-Konjunktur“ bezeichnet hat: eine Wirtschaft, in der die Inflation zu heiß läuft und sich das Wachstum zu sehr abkühlt. Unser vorläufiger Basisausblick geht nach wie vor von einem überdurchschnittlichen Trendwachstum in den Industrieländern aus. Wir haben diesen Ausblick jedoch überarbeitet und die Prognose gegenüber unseren Vorkriegseinschätzungen um etwa 1 Prozentpunkt auf 3 % für 2022 nach unten angepasst. Das Wachstum wird grundsätzlich weiterhin durch den wirtschaftlichen Aufschwung nach der Pandemie und die aufgestauten Ersparnisse gestützt, die die Nachfrage ankurbeln.
Die Aussichten für Wachstum und Inflation werden durch die bereits fragilen Ausgangsbedingungen getrübt. Wir gehen von der folgenden technischen Annahme aus: Die tatsächlichen Rohstoffpreise werden den Futures folgen, die nach unten zeigen (zumindest zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Ausblicks). Dennoch rechnen wir damit, dass die Gesamt- und Kerninflation in den nächsten Monaten weiter nach oben klettern wird, um sich erst danach leicht abzuschwächen. Bitte beachten Sie, dass wir seit dem Dezemberforum unsere Prognose für die durchschnittliche Inflation in den Industrieländern im Jahr 2022 um 2 Prozentpunkte auf 5 % angehoben haben. Es gibt jedoch offensichtliche und erhebliche Abwärtsrisiken für dieses Wachstumsszenario und ebenso große Aufwärtsrisiken für die Inflationsaussichten, insbesondere dann, wenn der Krieg oder die Sanktionen weiter eskalieren. Wir stellen fest, dass der von Analysten der US-Notenbank veröffentlichte Index für geopolitische Risiken gestiegen ist – siehe Abbildung 1. Man muss nicht extra betonen, dass diese Entwicklungen unser langfristiges Thema – kürzere Wachstums- und Inflationszyklen mit größeren Amplituden – tendenziell stützen.
Abbildung 1: Das geopolitische Risiko notiert auf dem höchsten Stand seit fast zwei Jahrzehnten
2) Nichtlineares Wachstum und Überraschungen mit Blick auf die Inflation sind wahrscheinlicher
Ein zweiter Punkt, der betont werden muss: Der Ausblick für Wachstum und Inflation wird durch potenzielle Linearitäts-Abweichungen im Zusammenhang mit bereits fragilen Ausgangsbedingungen weiter eingetrübt. Unterbrechungen der Lieferketten waren aufgrund von Covid-19 bereits weitverbreitet, was die Produktion sinken ließ und die Kosten und Preise in vielen Branchen in die Höhe trieb. Der Krieg Russlands in der Ukraine und die Sanktionen haben zu weiteren Störungen geführt – just zu einem Zeitpunkt, als sich bei einigen der Engpässe im Zusammenhang mit Covid eine Entspannung abzuzeichnen begann. Auf Russland entfallen zwar nur 1,5 Prozent des Welthandels. Aber bei einer Reihe von Energieträgern und anderen Rohstoffen ist der Anteil viel höher. Die Ukraine wiederum ist nicht nur ein großer Getreideproduzent, sondern auch ein wichtiger Zulieferer für die Automobilindustrie Europas. Auch das Neongas für Computerchips stammt aus der Ukraine. Angesichts der Komplexität globaler Lieferketten können auch scheinbar nur geringfügige Engpässe bei bestimmten Rohstoffen und Komponenten große Auswirkungen auf die Produktion und die Preise haben.
Darüber hinaus haben die jüngsten Pandemie-Lockdowns in Teilen Chinas das Potenzial, neue Engpässe in der globalen Lieferkette zu verursachen, unabhängig von den Entwicklungen in Russland und der Ukraine. Selbst in einem Szenario, in dem der Krieg bald beendet ist und die Rohstoffpreise nachgeben, wäre es unserer Meinung nach zu früh, zu dem Schluss zu kommen, dass alles wieder gut ist. Außerdem ist zu bedenken, dass die Sanktionen auch nach einem Ende des Kriegs noch lange bestehen würden, was den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital behindern und dadurch Probleme in der Lieferkette verschärfen würde.
Eine weitere potenzielle Linearitäts-Abweichung im Inflationsgeschehen: Schon vor dem Ukraine-Schock hatte die Teuerung in vielen Ländern den höchsten Stand seit mehreren Jahrzehnten erreicht. Und auch die längerfristigen Inflationserwartungen hatten sich nach oben verschoben – siehe Abbildung 2 für die Daten aus den USA. Der zusätzliche kurzfristige Aufwärtsdruck auf die Preise hat das Risiko erhöht, dass sich die mittel- und längerfristigen Inflationserwartungen abkoppeln und eine Lohn-Preis-Spirale auslösen. Dieses Risiko ist in den USA, wo der Arbeitsmarkt bereits sehr angespannt ist, größer. Aber es ist angesichts des Ausmaßes des Inflationsschocks auch für Europa signifikant. Vieles hängt von der Reaktion der geld- und finanzpolitischen Entscheidungsträger ab, wie wir weiter unten erörtern werden.
Abbildung 2: Die Messgrößen für die Inflationserwartungen in den USA sind seit Ausbruch der Pandemie deutlich gestiegen, liegen derzeit aber noch im Rahmen der längerfristigen Durchschnittswerte
3) Asymmetrischer Schock erzeugt größere Divergenz
Der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen werden im Prognosezeitraum wahrscheinlich zu einer breiteren Streuung der Wachstums- und Inflationsdaten in den einzelnen Ländern und Weltregionen führen. Beachten Sie, dass diese Entwicklungen ein weiteres unserer langfristigen Themen tendenziell verstärken – eine größere Divergenz von Wachstum und Inflation zwischen den einzelnen Ländern.
Inflation und Wachstum werden in den einzelnen Weltregionen wahrscheinlich sehr unterschiedlich ausfallen. Europa wird vermutlich am stärksten betroffen sein. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: die geografische Nähe zum Konflikt, die engeren Handels-, Lieferketten- und Finanzverflechtungen mit Russland und der Ukraine, die große Abhängigkeit von Gas- und Öleinfuhren aus Russland sowie die Ankunft von Kriegsflüchtlingen. Das Risiko, dass Europa in diesem Jahr in eine Rezession schlittert und gleichzeitig eine deutlich höhere Inflation erlebt, ist erheblich gestiegen, insbesondere dann, wenn die Gaslieferungen aus Russland unterbrochen werden sollten.
China und die meisten anderen asiatischen Volkswirtschaften haben geringere direkte Handelsverbindungen mit Russland. Sie werden aber wahrscheinlich unter höheren Energiepreisen, rückläufigen Einkünften von russischen Touristen und einem geringeren Wachstum in Europa leiden. Darüber hinaus ist China mit dem nicht unwesentlichen Risiko von sekundären Sanktionen konfrontiert, die seine Wirtschaft beeinträchtigen könnten, falls der Konflikt weiter eskaliert und China einen zu engen Schulterschluss mit Russland sucht.
In den Schwellenländern dürften Exporteure von Rohstoffen wie Öl, Eisenerz, Kupfer, Metallen, Weizen und Mais von günstigeren Handelsbedingungen profitieren. In der Zwischenzeit werden jedoch höhere Rohstoffpreise in den meisten Schwellenländern den ohnehin schon hohen Inflationsdruck noch verstärken, insbesondere dort, wo die Inflationserwartungen mit Unsicherheiten behaftet sind. Wir gehen davon aus, dass einige Länder in Nordafrika und im Nahen Osten überproportional stark von steigenden Weizenpreisen und sinkenden Tourismuseinnahmen betroffen sein werden. Die ökonomischen Härten könnten die politische Instabilität in der Region verstärken – wir erinnern bei dieser Gelegenheit an den sogenannten Arabischen Frühling vor mehr als einem Jahrzehnt.
Die US-Wirtschaft scheint hingegen von den direkten Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine relativ isoliert zu sein, da sie nur minimale direkte Handelsbeziehungen mit der Region unterhält und relativ unabhängig von Energie-Importen ist. Allerdings können das langsamere Wachstum in anderen Teilen der Welt, der deutliche Anstieg der Spritpreise, potenzielle zusätzliche Unterbrechungen der weltweiten Lieferketten und eine deutliche Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen seit Beginn des Kriegs (siehe Abbildung 3) auch das Wachstum in den USA dämpfen und die Inflation dieses Jahr weiter steigen lassen. Das ist zumindest unsere Einschätzung.
Abbildung 3: Die Finanzierungsbedingungen in den USA haben sich seit der Ukraine-Invasion rapide verschlechtert
4) Zentralbanken: Das Tauziehen
Die meisten Zentralbanken scheinen sich dafür entschieden zu haben, gegen die Inflation zu kämpfen – und nicht etwa das Wachstum zu stützen. In normalen Zeiten würden wir von den Zentralbanken erwarten, dass sie die inflationären Folgen eines angebotsseitigen Schocks durchschauen und verstehen. Aber dies sind eben keine normalen Zeiten: Der aktuelle Schock kommt zu einer Zeitpunkt, an dem die Inflation aufgrund der Pandemie und der anhaltenden Unterbrechungen der Lieferketten bereits hoch ist. Die geldpolitischen Entscheidungsträger scheinen sich daher in erster Linie darauf zu konzentrieren, Zweitrundeneffekte einer höheren Gesamtinflation und einen weiteren Anstieg der bereits hohen Inflationserwartungen zu unterbinden. Natürlich erhöht dies auch das Risiko einer harten Landung zu einem späteren Zeitpunkt. Und es impliziert ein steigendes Rezessionsrisiko später in diesem Jahr oder 2023. Das enspricht zwar nicht unserem Basisszenario, ist aber durchaus ein Risiko, das man auf dem Schirm haben sollte.
Die Europäische Zentralbank (EZB), die hinsichtlich der BIP-Risiken dem Russland-Schock am nächsten steht und zusammen mit Japan die schwächste Inflationsdynamik ausweist, hat auf ihrer März-Sitzung deutlich gemacht, dass sie angesichts der aktuellen Konjunkturaussichten nicht beabsichtigt, von ihrem Kurs der geldpolitischen Lockerung abzurücken.
Die US-Notenbank leitete auf ihrer März-Sitzung einen neuen Zyklus der geldpolitischen Straffung ein, indem sie den Leitzins über die Nullgrenze hob und eine Reihe weiterer Zinserhöhungen in diesem Jahr ankündigte, verbunden mit einer Reduktion der Bilanzsumme, was wahrscheinlich nach einer der nächsten beiden Sitzungen initiiert wird. (Lesen Sie zu den Implikationen der Fed-Sitzung vom März auch unseren Blog-Beitrag.)
Die Bank von England hat die Zinsen im März zum dritten Mal in drei Monaten erhöht und signalisiert, dass wahrscheinlich weitere Schritte folgen werden. Auch viele andere Zentralbanken sowohl in den Industrie- als auch in den Schwellenländern haben angesichts des starken Inflationsdrucks einen Kurs der geldpolitischen Straffung eingeschlagen. Die einzige große Ausnahme ist China. Dort haben eine unter dem Ziel liegende Inflation, eine starke Währung und Wachstumssorgen in den vergangenen Monaten zu einer moderaten Lockerung der Geldpolitik geführt. Eine Straffung in diesem Jahr erscheint deshalb unwahrscheinlich.
Die meisten Zentralbanken räumen der Inflationsbekämpfung Vorrang vor der Wachstumsunterstützung ein Zum ersten Mal seit der Stagflation in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren haben wir damit eine Situation, in der die größten westlichen Zentralbanken, angeführt von der Fed, angesichts eines negativen Wachstumsschocks und eines positiven Inflationsschocks vermutlich nicht mehr zur Rettung herbeieilen werden. Dies erhöht das Risiko eines schwächeren Wachstums oder gar einer Rezession in den entwickelten Volkswirtschaften – und das kann Schaden an den Finanzmärkten anrichten.
In unserem Langfristausblick mit dem Titel „Ära der Transformation“ hatten wir Folgendes betont: Unser Basisszenario geht nach wie vor von neutralen realen Leitzinsen aus, die niedrig bleiben. Das ist teilweise auf hartnäckige Langfristfaktoren und zum Teil auf die Sensibilität der Finanzmärkte gegenüber höheren Zinsen zurückzuführen. Eine höhere Inflation wird die Zentralbanken zwar vor schwierige Entscheidungen stellen – für aktive Anleger ergeben sich dadurch jedoch auch Chancen, wenn die geldpolitischen Zügel dauerhaft gestrafft werden und infolgedessen einige Bereiche der Finanzmärkte unter Druck geraten.
5) Fiskalpolitik: Verhaltene Reaktion
Die Regierungen reagierten auf die Pandemie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, unterstützt durch die Geldpolitik. Da die Defizite und die Verschuldung nun jedoch deutlich höher sind und die Zentralbanken die quantitative Lockerung beenden und die Zinssätze anheben, dürfte die fiskalische Reaktion auf den aktuellen Schock sehr viel verhaltener ausfallen.
Wir sind der festen Überzeugung, dass es in Europa zu einer weiteren fiskalpolitischen Lockerung kommen wird, einerseits in Form höherer Verteidigungsausgaben (die jedoch erst nach einiger Zeit wirksam werden), andererseits durch Transferzahlungen und Steuersubventionen, die die Auswirkungen der höheren Energiekosten auf die verfügbaren Einkommen abfedern sollen. Diese Maßnahmen können jedoch wahrscheinlich nur teilweise die Belastungen ausgleichen, die sich durch das Auslaufen der zeitlich begrenzten Unterstützungsmaßnahmen während der Pandemie ergeben. Immerhin: Schritte hin zu einer gemeinsamen Fiskalpolitik über den EU-Haushalt, diesmal im Bereich Verteidigung und für mehr Investitionen in erneuerbare Energien, scheinen wahrscheinlich. Allerdings könnte dieser Prozess so schleppend verlaufen, dass er erst jenseits unseres Prognosehorizonts Wirkung zeigt.
In den USA dürfte es kurzfristig bestenfalls geringfügige zusätzliche fiskalpolitische Unterstützung geben, wenn man sich die Patt-ähnliche Situation im US-Kongress vor Augen hält. Die Zwischenwahlen im November könnten eine republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus und möglicherweise auch im Senat bringen. Der darauf folgende Stillstand würde weitere Steuererleichterungen wohl auf Jahre hinaus verhindern. Für das Konjunkturwachstum sind das keine guten Nachrichten. Das dürfte jedoch dazu beitragen, den Inflationsdruck zu dämpfen, denn wie die Pandemie gezeigt hat, ist die Inflation nicht nur ein monetäres, sondern auch ein fiskalisches Phänomen – es gehören immer zwei dazu.