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EZB: Geringere Reiseflughöhe

Während die Europäische Zentralbank ihren Zins für die Einlagefazilität um 25 Basispunkte auf 3,75 Prozent gesenkt hat, ist das weitere Vorgehen über den Juni hinaus noch unklar.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Leitzinsen bei ihrer Juni-Sitzung um 25 Basispunkte gesenkt – ihre erste Zinssenkung seit fast fünf Jahren –, dabei aber keine klare Aussage über den künftigen Verlauf ihres Zinszyklus getroffen. Während der EZB-Rat die Reiseflughöhe leicht nach unten angepasst hat, wird das Zahlenwerk der kommenden Monate ausschlaggebend dafür sein, mit welchem Tempo die Notenbanker ihre Zügel weiter lockern. In der Zwischenzeit dürfte die Politik aus unserer Sicht restriktiv bleiben und Entscheidungen von Sitzung zu Sitzung getroffen werden. Dass sich die Europäischen Notenbanker vorab auf einen bestimmten Zinspfad festlegen, halten wir für unwahrscheinlich.

In Übereinstimmung mit dem ersten Schritt im Zinssenkungszyklus vom Juni, der den Einlagensatz auf 3,75 Prozent befördert, glauben wir, dass die Europäische Zentralbank auch künftig Zurückhaltung üben und in konventionellen 25-Basispunkte-Schritten voranschreiten wird. Wegen ihrer Reaktionsfunktion (die sich auf die Inflationsaussichten, die Dynamik der Basisinflation und den geldpolitischen Transmissionsmechanismus gründet) erwarten wir, dass die EZB bei den vierteljährlichen Sitzungen, die mit der Veröffentlichung ihrer internen Prognosen einhergehen, weitere Zinssenkungen vornimmt; bei den übrigen Sitzungen ist dies hingegen weniger wahrscheinlich. Die nächste Gelegenheit, den Desinflationsprozess ganzheitlich zu bewerten, bietet sich im September; die letzte Sitzung des Jahres 2024, bei der interne Prognosen veröffentlicht werden, findet im Dezember statt.

Für das laufende Jahr preist der Markt derzeit weitere 35 Basispunkte an Zinssenkungen und für Ende 2025 ein Leitzinsniveau von 2,8 Prozent ein. Der endgültige Zins wird mit rund 2,5 Prozent beziffert – womit er deutlich über den meisten Schätzungen für den neutralen Leitzins im europäischen Währungsgebiet liegt. Daraus lässt sich schließen, dass die Anleger um eine höhere Inflation auf der „letzten Meile“ besorgt sind. Im Gegensatz zum Jahresbeginn erscheint diese Erwartung nunmehr vernünftig und entspricht weitgehend unserem vor langer Zeit aufgestellten Basisszenario, das drei Kürzungen für 2024 vorsieht, mit je einer Zinssenkung bei den beiden verbleibenden Sitzungen mit EZB-Prognosen.

Die Risiken tendieren dabei in Richtung geringerer Zinssenkungen, was vor allem der zähen Inflation im Dienstleistungssektor, dem robusten Arbeitsmarkt, den lockeren Finanzbedingungen und den Risikomanagement-Erwägungen der EZB verschuldet ist. In der zweiten Jahreshälfte dürfte das Hauptaugenmerk auf die Lohnentwicklung und die Inflation im Dienstleistungssektor gerichtet sein, insbesondere angesichts der rekordniedrigen Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent und der nach wie vor erhöhten Zahl freier Stellen.

Insgesamt sind wir in der europäischen Duration weitgehend neutral positioniert, was den aktuellen Bewertungen zuzuschreiben ist. Wir erwarten, dass sich die Zinssätze in einer angemessenen Bandbreite bewegen, und ziehen es vor, taktische Durationspositionen einzugehen. Mit Blick auf die Laufzeitstruktur erwarten wir nach wie vor, dass sich das lange Ende der Zinskurve schlechter entwickelt als kürzere Laufzeiten, was primär durch die langfristige Rückkehr der Laufzeitprämien bedingt ist (weitere Informationen hierzu finden Sie in unserem kürzlich veröffentlichten langfristigen Ausblick).

Die EZB hat wieder mehr Vertrauen in ihre Modelle

Anstatt sich fast ausschließlich auf die gesamtwirtschaftlichen Prognosen ihrer Belegschaft zu verlassen, hat die Europäische Zentralbank ihre Reaktionsfunktion in den letzten Jahren auf drei Kriterien ausgeweitet: die Inflationsaussichten, die Dynamik der Basisinflation und die Stärke des geldpolitischen Transmissionsmechanismus. Da der Inflationsabbau inzwischen weitgehend abgeschlossen ist und die Prognosen wieder akkurater sind, scheint die EZB das Vertrauen in ihre Modelle allmählich zurückzugewinnen.

Auch wenn die Inflationszahlen geringfügig nach oben korrigiert wurden, deuten die EZB-Prognosen vom Juni unverändert darauf hin, dass sich die Inflation Ende nächsten Jahres dem Zielniveau nähert. Für die Gesamtinflation rechnen die Notenbanker mit durchschnittlich 2,2 Prozent im Jahr 2025 sowie 1,9 Prozent im Jahr 2026, während sich die Kerninflation auf durchschnittlich 2,2 Prozent im Jahr 2025 bzw. 2,0 Prozent im Jahr 2026 belaufen sollte. Unter dem Strich ist der EZB-Rat bemüht, die Vorteile prognosebasierter Kriterien (die womöglich für vorzeitige Zinssenkungen sprechen) gegen datenabhängige Kriterien (die unter Umständen für einen allmählicheren und schrittweisen Ansatz sprechen) abzuwägen. Darin spiegelt sich die verbleibende Ungewissheit darüber wider, wie hartnäckig die Inflationsdynamik tatsächlich ist.

Alles in allem bestätigen die Prognosen, dass sich die Konjunktur erholt und die Inflation in Richtung der Zielmarke konvergiert. Obgleich die vorläufigen Inflationszahlen für Mai zu spät veröffentlicht wurden, um noch in die Prognosen einzufließen, wurde bei der Ratssitzung thematisiert, dass sie über der Konsenserwartung liegen. Hierzu sei mit Blick auf die Kerninflation vor allem erwähnt, dass die Inflation im Dienstleistungssektor im Mai um 0,4 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf 4,1 Prozent gestiegen ist. Diese rigide Inflation im Dienstleistungssektor und das kräftige Lohnwachstum dürften dafür sorgen, dass die Politik noch über einen längeren Zeitraum restriktiv bleibt.

Die Lohnkosten geben nach wie vor den Ausschlag

Gemäß den neuen EZB-Prognosen sollte das Lohnwachstum der Arbeitnehmer von 5,2 Prozent im Jahr 2023 auf 4,8 Prozent im Jahr 2024 zurückgehen, gefolgt von 3,5 Prozent im Jahr 2025 und 3,2 Prozent im Jahr 2026. Das Wachstum der ausgehandelten Löhne im Euroraum ist von 1,4 Prozent im Jahr 2021 auf 4,5 Prozent im Jahr 2023 gestiegen, wobei der Inflationsausgleich im Mittelpunkt der Tarifverhandlungen steht. Die aktuellen Zahlen weisen einen weiteren Anstieg auf 4,7 Prozent im ersten Quartal 2024 aus, was vor allem auf Einmalzahlungen im öffentlichen Sektor in Deutschland zurückzuführen ist.

Wenn man ein breiteres Spektrum von Lohnindikatoren betrachtet, deutet die allgemeine Richtung indessen auf eine Verlangsamung hin. nach Angaben der EZB weisen mehrere Indikatoren (unter anderem der EZB Wage Tracker, der auf Online-Stellenausschreibungen basierende Indeed Wage Tracker und die EZB-Umfrage über den Zugang von Unternehmen zu Finanzmitteln) allesamt darauf hin, dass sich der Lohndruck bei den ausgehandelten Löhnen etwas abschwächt. Im Ergebnis rechnet die EZB damit, dass das Lohnwachstum sein Spitzenniveau von 2023 allmählich verlässt und sich 2026 vollständig normalisiert.

Neben den Löhnen bleibt auch die Entwicklung der Gewinnmargen und der Produktivität der Unternehmen unklar. Wie die Prognosen vom Juni nahelegen, dürften die Stückgewinne im Jahr 2024 weitgehend unverändert bleiben, was bedeutet, dass die gestiegenen Lohnkosten durch die Gewinne aufgefangen werden müssen. Wenn die Konjunktur wieder anzieht, könnten die Unternehmen dagegen wieder mehr Preisgestaltungsmacht erhalten. Außerdem rechnen die Notenbanker damit, dass die gestiegene Nachfrage das Produktivitätswachstum beflügelt; die Produktivitätsverluste der europäischen Unternehmen könnten allerdings länger von Bestand sein als bislang angenommen.

Autor

Konstantin Veit

Portfolio Manager, Leiter European Rates- und Short-Term Desks, CFA

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